Emanzipatorisches Denken in Jiddischen Liedern

Rezension: Heiner Jestrabek (Hg.): Lieder des Ghetto - Jiddische Freiheitslieder

Auch rational Denkende geraten bisweilen ins Schwärmen beim Genuss von Klesmorim genannter Volksmusiktradition des aschkenasischen Judentums, einer Tradition weltlicher, nichtliturgischer Musik, die hauptsächlich zu Hochzeiten und anderen Festen gespielt wurde. Ursprünglich bezeichnete Klesmer nur die Musiker. Als in den letzten Jahrzehnten in den USA und Europa ein regelrechtes Revival der jiddischen Musik erfolgte, wurde die amerikanische Schreibweise Klezmer zur Bezeichnung des musikalischen Genres, die bis dahin meist einfach nur jiddische Musik genannt wurde. Man denke nur an die New Yorker Gruppe Klezmatics.

Ist die jiddische Musik, die ursprünglich rein instrumental war, schon reizvoll, stehen in dieser Dokumentation die Texte im Vordergrund. Zeitgeschichtliche Einführungen machen die „Liederbuch-Dokumentation“ weniger zu einem besingbaren Liederbuch, mehr zu einem Lesebuch jiddischer Poesie und Sozialkritik. Kritisch bleibt deshalb auch anzumerken, dass zu wenig und zu kleine Notenbilder beigefügt sind.

Zudem wurde der Begriff „Freiheitslieder“ weiter gefasst und beinhaltet hier zu Volksliedern gewordene sozialkritische Gedichte, da „Die Geschichte der jiddischen Kultur … sich sehr anschaulichst… in ihren Liedern wieder[spiegle].“ Dokumentiert werden über 130 Lieder von „Not und Hoffnung“, „Arbeit und Kampf“, Antifaschistische Lieder aus den Ghettos und der Partisanen, Lieder der Einwanderer nach den USA und „Neuere Lieder“. Die vielen Illustrationen, u. a. von Ephraim Moses Lilien, Künstlerporträts von geläufigen wie Friedrich Holländer, neben den vielen dem Rezensenten bisher unbekannten wie Josef Bowschower, Ilse Weber, Morris Rosenfeld  u.v.a.m., stellen allein schon einen hohen Informations- und Genusswert dar.

Die Einführung spannt einen großen Bogen und erzählt einen Abriss der ganzen Geschichte der Verfolgungen und nennt die christlichen Täter, erzählt aber auch von jiddischer Sprache und Literatur, der Aufklärung Haskala, Emanzipation und Assimilation, Antisemitismus, jüdischer Religion und „nichtjüdischen Juden“. Breiten Raum nimmt die jiddische Arbeiterbewegung des Allgemeinen Jiddischen Arbeiter-Bundes ein.

Interessant ist auch der Exkurs über Religionskritik. „Apikojres“  (nach dem hedonistischen Philosophen Epikur, um 341-271 v.u.Z) nennen die frommen Juden die Freigeister und Säkularen. Dazu zählten auch ein Großteil der Assimilierten, Zionisten, Liberalen und natürlich die Sozialisten. Ein Ehrentitel, der bald eine Selbstbezeichnung wurde. Hier werden prominente Beispiele, wie Karl Marx, Moses Heß, Jakob Stern und Heinrich Heine zitiert, die über Religion als trostspendendes Rauschmittel philosophierten. Der Herausgeber  konnte sich den versöhnlerischen Schlusssatz nicht verkneifen: „Allen Apikojrim und Gläubigen sei es vergönnt, dass sie in einer zukünftigen gerechten und friedlichen Gesellschaftsordnung dieses Trostes nicht mehr bedürfen.“

Aber das Hauptanliegen der Dokumentation sind offensichtlich die Texte der dokumentierten Lieder. Bisher fehlten ausreichend zur Verfügung stehende Übersetzungen (Jiddisch besteht eben doch nur zu rund 70 % aus alten deutschen Dialekten). „Die dokumentierten Lieder sind in Jiddisch oder jiddischen Ursprungs (einige englische, deutsche, russische und neuhebräische finden sich auch darunter) und werden durch hochdeutsche Transkriptionen ergänzt. Der Herausgeber bediente sich bei den Transkriptionen und Übersetzungen aus dem Jiddischen schon bestehender Übertragungen ins Hochdeutsche, Englische oder aus dem so genannte ‚Jinglischen’ (amerikanisches Jiddisch).“ Dabei sah die Quellenlage so aus, dass unzählige Varianten und Schreibweisen des Jiddischen zu Vereinheitlichen waren und neue Übertragungen erfolgen mussten. Ältere Text- und Liederbücher, LP- und CD-Texthefte, Internet und Gehörtes floss mit ein. („Quellen und Literatur“ verweisen darauf.) Der Herausgeber versteht sich hier ausdrücklich als Werber zum Kauf der Tonträger (die leider häufig kaum mehr zu haben sind).

Es bleibt somit ein brauchbarer Reader, eben eine „Liederbuch-Dokumentation“. Schon allein die Einleitung und die erklärenden Zwischentexte - mit Beiträgen über die lange Geschichte der Verfolgungen, jiddische Sprache, Klesmer, Assimilation, Antisemitismus, Religion, Aufklärung, „nichtjüdische Juden“ und philosophische Religionskritik - vermitteln ein gänzlich neues Bild des Judentums, jenseits des vermeintlichen Mainstream. Klesmer werden wir künftig mit anderen Ohren hören.

 

Ralph Metzger

 

Verlag freiheitsbaum Reutlingen – Edition Spinoza, 1. Auflage 2011, ISBN 978-3-922589-51-1, Softcover 140 S. 12 €.

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