Martin Luther-Fürstenknecht oder Reformator?

von Heiner Jestrabek

 

Martin Luther allerorten. Im 450. Todesjahr erlebten wir eine Inflation an Lutherehrungen. Diejenigen Zeitgenossen unter uns, die um eine positive Veränderung der Gesellschaft bemüht sind, fragen sich hierbei, welche Rolle Luther wohl im Emanzipationsprozess der Menschheit gespielt hat.

Um sich über Martin Luther (1493-1546) und sein Werk Klarheit zu verschaffen, bedarf es einiger Erläuterungen der Ideen seiner Zeit. Diese Zeit glich in vieler Hinsicht der heutigen. Eine überlebte verrottete Gesellschaftsordnung zeigte alle Krisensymptome und die Denkenden suchten nach Perspektiven. Friedrich Engels nannte diese Zeit "die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit."

Vom Bürgertum

Die bürgerliche Gesellschaft schuf sich eine antifeudale Kultur, die den Kampf um die politische Macht förderte. Dies äußerte sich auf dem Gebiet der Wissenschaft in Form der Ideen des Humanismus, bei den Künsten durch die Renaissance und in der Religion durch die Reformation.

Der Humanismus besann sich auf die Ideale der Antike und forderte, nach der wahren Erkenntnis der Dinge zu streben und die Natur zu erforschen. Die Humanisten wollten die Wissenschaft in den Dienst der Menschen stellen. Deshalb kämpften sie gegen Unwissenheit, den kirchlichen Dogmatismus und die mittelalterliche Scholastik. Bedeutende Humanisten waren z.B. der Niederländer Erasmus von Rotterdam, der Pole Nicolaus Copernicus und die Deutschen Philipp Melanchton, Paracelsus und Georg Agricola.

Die Renaissance trat in Erscheinung, als eine Wiederentdeckung der Ideale, Literatur, Sprache und Kunst der Antike. Durch diese Orientierung wandten sich die Künstler gegen die reaktionäre mittelalterliche Kunst. Die Kunst der Renaissance war gekennzeichnet durch das Streben nach Erkenntnis, Wahrheit und Gestaltung des diesseitsbezogenen Menschen. Bedeutende Künstler der Renaissance waren z.B. Raffael, Dürer und Riemenschneider.

Von der Reformation

Die Reformation war die Antwort auf die besonders üblen Zustände in der katholischen Kirche. Deren verschiedene Strömungen begannen sich bald in drei wichtige Parteien zu differenzieren. So gab es das Lager der bürgerlichen, gemäßigten Reformation, dem im mittleren und nördlichen Deutschland die Masse des niederen Adels, das Städtebürgertum und einen großer Teil der Fürsten, die sich auf Kosten der Geistlichkeit Machtzuwachs erhofften, angehörten. Der Sprecher Dieser Strömung war Luther.

In der Schweiz bildete sich ein radikal-bürgerliches Lager heraus, dem das Städtebürgertum von Zürich und Bern angehörte, aber auch in ganz Süddeutschland Anhänger kannte, daß sich durch seinen Willen zur Umgestaltung des gesamten öffentlichen Lebens grundsätzlich vom lutherischen Lager unterschied. Sprecher dieser Strömung war Huldrych Zwingli (1484-1534), dessen Anhänger sich später mit Johann Calvin (1509-1564) vereinigten.

Die in ganz Deutschland hervortretende revolutionäre Bewegung der Bauern und Plebejer, die eine Volksreformation in allen gesellschaftlichen Bereichen anstrebte, und im großen Bauernkrieg gipfelte, war das konsequenteste Lager. Sprecher dieser Strömung war Thomas Müntzer (1490-1525). Auch die revolutionäre Täuferbewegung (auch Wiedertäufer genannt) gehört hierzu, insbesondere durch ihr Eintreten für eine Gütergemeinschaft und durch ihre Anknüpfung an die Ideale der Armutsbewegungen der mittelalterlichen Ketzer.

Im Gegensatz zu Luther, der die revolutionären Bauern verriet, wurde Müntzer zum Anführer der bäuerlichen Aufstände. Er war der Überzeugung, daß die Armen die wahren Gotteskinder seien. Revolutionär war er dort, wo er die Meinung vertrat, daß man das Paradies nicht passiv erwarten dürfe, sondern handelnd eingreifen müsse, um Gottes Reich zu erreichen. Dies predigte er den Armen, und die Mächtigen erblickten darin bald eine Ermunterung zum Aufruhr.

Von den Bauernkriegen

Gegen die sich erhebenden Bauern polemisierte Luther scharf. In seiner "Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" räumte er zwar ein, daß die Klagen der Bauern z.T. zu Recht bestünden, aber er bestritt ihren Anspruch, sich dagegen auflehnen zu dürfen. Die meisten Artikel der Bauern seien angeblich Raub an der Obrigkeit und zu verwerfen. In seiner berüchtigten Flugschrift "Wider die räuberischen und mordenden Rotten der Bauern" von 1525, wurde er vollends zum Konterrevolutionär: "Drum soll hie zuschmeißen (erschlagen), würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und gedenken, daß nicht Giftgers, Schädlichers, Teuflischers sein kann denn ein aufruhrischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlahen muß. (..) Ich mein, daß kein Teufel mehr in der Hölle sei, sondern allzumahl in die Baurn sind gefahren. (...) Denn ein Fürst oder Herr muß hie

denken, wie er Gottes Amtmann und seins Zorns Diener ist (Röm. 13), dem das Schwert über solche Buben befohlen ist und sich ebenso hoch fur Gott versundigt, wo er nicht straft und wehret und sein Amt nicht vollfuhret. (...) Es gilt auch nicht Geduld oder Barmherzigkeit. Es ist des Schwerts und des Zorns Zeit hie und nicht der Gnaden Zeit. So soll nu die Oberkeit hie getrost fortdringen und mit gutem Gewissen dreinschlahen, weil (solange) sie eine Ader regen kann."

Luther war also Schreibtischtäter. Er munterte die Fürsten auf, die Bauern zu ermorden und stellte dies auch noch als gottgefälliges Werk dar: "Steche, schlahe, wurge hie, wer da kann! Bleibst du druber tot, wohl dir! Seliglicheren Tod kannst du nimmermehr uberkommen, denn du stirbst in Gehorsam göttlichs Wort und Befehls." (nach Hutten Müntzer Luther).

 

 

Luthers Hetzschrift wider die Bauern.

Trotz aller Rebellion gegen das Papsttum, blieb Luther doch eine Pfaffenseele. Denn er haßte nicht nur das aufbegehrende Volk, als Theologie überwand er auch nicht den Exorzismus, den Hexenglauben und den Judenhaß.

Vom Teufel- und Hexenwahn

Luther hielt am Teufels- und Dämonenglauben fest und glaubte an Exorzismen. Die angebliche Teufelsbuhlschaft von sogenannten Hexen stand für ihn fest. Ja, er hielt das ganze Frauengeschlecht für gefährdet: "Das Hexen ist ihnen von der Mutter Eva angeboren, daß sie äffen und betrügen." 1526 predigte er: "Die Zauberinnen sollst Du nicht leben lassen (...) Es ist ein gerechtes Gesetz, daß sie getötet werden. Sie richten viel Schaden an (...) sie können auch ein Kind bezaubern (..) schaust du solche Weiber an, wirst du sehen, daß sie ein teuflisches Gesicht haben. Ich habe deren etliche gesehen (...) man töte sie nur."

Auch die Folter von Hexen hieß Luther gut: "Ich habe etliche zu vermahnen, daß viele Wettermacherinnen sind, die nicht allein die Milch stehlen, sondern auch die Leute schießen (gemeint ist der "Hexenschuß") (...) Wenn sie sich nicht bekehren, werden wir sie den Folterknechten befehlen." (nach Hans-Jürgen Wolf)

So verwundert es nicht, daß in den Zeiten des schlimmsten Hexenwahnes, im 17. Jahrhundert, die Evangelischen den Katholischen, in Bezug auf Verbrechen an der Menschlichkeit, in nichts nachstanden.

Vom Judenhaß

Luther und seine Anhänger waren nicht weniger antisemitisch eingestellt, als die Katholiken. Bei Luther findet sich gar rabiate Judenhetze, besonders in der Schrift von 1543 "Von den Juden und ihren Lügen": "Erstlich, daß man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke, und was kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich (...) Zum anderen, daß man ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre (...) Zum dritten, daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten (...) Zum vierten, daß man ihren Rabbinern bei Leib und Seele verbiete, hinfort zu lehren (...) bei Verlust Leibes und Lebens (...) der Juden Maul soll nicht wert gehalten werden bei uns Christen (...) wer es von den Juden hört, daß er’s der Oberkeit anzeige oder mit Saudreck auf ihn werfe (....) Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufgebe (...)"... und so weiter und so fort. (nach Joachim Kahl)

Das ist wirklich scheußlich! Die Nazis stürzten sich natürlich auf solche Ausfälle Luthers und begründeten damit ihre verbrecherischen Handlungen. Namentlich Julius Streicher, der Herausgeber der Hetzzeitung "Der Stürmer", vor dem internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946. Der Judenhaß Luthers sollte allen unkritischen Lutherverehrern zu denken geben.

Zeitgenössischer Holzschnitt auf die Gegner Luthers: Murner, Emser in Leipzig, Papst Leo X., Eck in Ingolstadt und Lemp in Tübingen.

Von Luthers Nutzen

Luther schuf allerdings auch viel Positives. Seine gemäßigte Reformation setzte sich schließlich in weiten Landesteilen durch und wurde auch von den progressiven gesellschaftlichen Schichten dieser Zeit aufgenommen und getragen, denn für den Revolutionär Müntzer war die Zeit leider noch nicht genug reif und die gesellschaftliche Basis noch nicht weit genug entwickelt. Ein echter Reformator war Luther dort, wo er die Liturgie reformierte. Den christlichen Untertanen wurde somit weniger kultischer Götzendienst und Mummenschanz zugemutet. Dort wo sich Luthers Lehre durchsetzte, kam es zur Abschaffung des Klosterunwesens, des Ablaßhandels, der Reliquien- und Heiligenverehrung, des Zölibats, der Beichte. Sein Rebellentum gegen die Papstkirche, vorgetragen mit viel persönlichem Mut, stellt in der deutschen Geschichte auch einen bedeutenden Höhepunkt dar.

Luthers größte literarische Leistung lag in der Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache (beendet 1534). Hier machte er sich vor allem um die Gestaltung der deutschen Schriftsprache verdient.

In seinem "Sendbrief vom Dolmetschen" (1530) legte Luther seine Auffassung von einer volkstümlichen deutschen Sprachgestaltung dar. Er verwandte sorgfältig ausgewählte, die Sache genau treffende volkstümliche Wörter, sprichwörtliche Wendungen und einfache Sätze, damit er vom ganzen Volk verstanden werden sollte. Er schrieb: "denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen, so verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihn’ redet."

Seine volkstümliche Sprache spiegelt sich auch in seinen vielen Agitationsschriften, vor allem aber in seinen Kirchenliedern und Fabeln wieder ("Wie der Fuchs die Beute teilte", "Vom Raben und Fuchs").

In seinen Kirchenliedern griff er weltliche Liedformen auf und legte dem Text bekannte Melodien unter. Wenn auch der größte Teil seiner Lieder theologischen Inhaltes war, so wurden doch die besten von ihnen als Protest- und Trutzlieder aufgenommen. Sogar Friedrich Engels bezeichnete das Kirchenlied "Ein feste Burg ist unser Gott" als die "Marseillaise des 16. Jahrhunderts".

Von Luthers Nachwirkungen

Von den drei großen Strömungen der Reformation, war die revolutionäre plebejisch-bäuerliche in den Blutströmen des Bauernkrieges erstickt worden. Aber auch der Katholizismus mußte sich erneuern um überleben zu können. Und so bildeten sich, in der Zeit zwischen dem Bauernkrieg und dem Dreißigjährigen Krieg, nunmehr drei neue Strömungen in Europa heraus. Es waren dies neben dem Luthertum, der Calvinismus und der Jesuitismus. Hinter ihrer religiösen Färbung und kirchlichen Form, standen handfeste ökonomisch-politische Interessen.

Der Jesuitismus modernisierte den Katholizismus nach den politischen und ökonomischen Erfordernissen des Frühkapitalismus und des Zeitalters des Kolonialismus. "Der Orden Jesu (...) reorganisierte das gesamte Schulwesen durch die klassischen Studien, die höchste Bildung die es damals gab, und nahm insoweit die Erbschaft des Humanismus auf; er wurde die größte Handelsgesellschaft der Welt, die ihre Kontore hatte, soweit die Erde entdeckt war; er lieferte den Fürsten in Form von Beichtvätern die erfahrensten und gescheitesten Minister." (nach Franz Mehrung)

Der Kalvinismus war in der reichen Handelsstadt Genf entstanden und entsprach durch seine demokratische Kirchenverfassung den Interessen der Städtebürger. Er fand Anhänger in den Städten der Niederlande und Frankreichs, aber auch im Westen Deutschlands.

Das "Luthertum war die Religion der ökonomisch zurückgebliebenen Länder, die am stärksten von Rom ausgebeutet worden waren. (...) Das Luthertum herrschte im nördlichen und östlichen Deutschland, in Dänemark, in Schweden. Es waren Länder mit verhältnismäßig geringer Entwicklung der Städte und starkem Übergewicht des Adels; im westlichen Deutschland, wo die Städte stärker und zahlreicher waren, wog der Calvinismus vor. (...) Entsprechend diesen rückständigen Verhältnissen war das Luthertum eine rückständige Religion. Seit seinem Verrat an den Bauern war Luther ein kriechender Fürstenknecht geworden; aus seiner Bibelübersetzung, die mit ihrer Darstellung des einfachen Urchristentums nicht wenig dazu beigetragen hatte, die Massen aufzuregen, machte er nunmehr einen Fürstenkatechismus, wie ihn kein Tellerlecker der Monarchie widerwärtiger hätte erfinden können. Die Fürsten, die Bischöfe, die Junker waren die Patrone der lutherischen Kirche, wodurch diese sich von der demokratischen Kirchenverfassung des Calvinismus viel tiefer unterschied als durch alle dogmatischen Haarspaltereien über das Abendmahl." (nach Franz Mehring)

Flugblatt auf den Streit zwischen Luther, Papst und Calvin.

Schließlich einigten sich die Parteien beim Religionsfrieden zu Augsburg auf den Grundsatz: "Cuius regio, eius religio", d.h. wer das Land besitzt, besitzt auch das Recht, die Religion der Landesbewohner zu bestimmen. Den Untertanen blieb künftig nur die Wahl, sich anzupassen oder auszuwandern. Die gewaltsame Bekehrung der Untertanen betrieben die protestantischen Fürsten nicht weniger als die katholischen.

Fazit

War Luther nun, in erster Linie, ein Fürstenknecht oder ein Reformator? - Er war bestimmt beides.

Dem Fortschritt der Menschheit hat Luther bestimmt als Literat mehr gedient, denn als Kleriker.

 

 

"Die Waage der Gerechtigkeit neigt sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten." Nach einem Holzschnitt des 16. Jahrhunderts.

 

Dieser Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht in ‘Materialien und Informationen zur Zeit. Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen’. 2/96. Alibri Aschaffenburg 1996 und ‘kristAll. Zeitschrift für Geistesfreiheiheit und Humanismus’. 1/96. A.Lenz Neustadt 1996.

Quellen und weiterführende Literatur:

o      Hans-Jürgen Wolf. Sünden der Kirche. S. 717-720. Historia Elchingen 1992.

o      Joachim Kahl / Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott. S. 39. Rowohlt Reinbeck 1968.

o      Hutten Müntzer Luther. Werke in zwei Bänden. Zweiter Band Luther, S. 257 ff., S. 270. Aufbau Berlin und Weimar 1975.

o      Franz Mehring. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters. 1910. Gesammelte Schriften, Bd. 5 S. 42 ff. Dietz Berlin 1975.

 

 

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