Wer war Max Sievers (1887-1944)? 1

Freidenker, Sozialist, Antifaschist

von Heiner Jestrabek

(dieser Aufsatz erschien 2005 als selbständige illustrierte Broschüre und in bearbeiteter Form als Beitrag im JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung Mai 2008/II: www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de )

 

Am 11. Juli 1887 wurde Max Wilhelm Georg Sievers in Berlin-Tempelhof geboren. Er wuchs in einer typisch proletarischen und kinderreichen Familie in Rixdorf (dem späteren Berlin-Neukölln) auf, einem typischen Proletarierbezirk.

1901, nach Abschluss der Gemeindeschule musste er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Er arbeitete als Gelegenheitsarbeiter, Glaser und Kutscher, besuchte nebenher eine Abendschule, was ihm ermöglichte, 1907 nach deren Abschluss kaufmännischer Angestellter bei den Zeitungsverlagen Scherl und Ullstein zu werden. 1910 trat er in die Autohandelsfirma und Karosseriefabrik Schebera ein, in der er ab 1911 als Prokurist arbeitete. In dieser Zeit hatte er unmittelbaren Kontakt mit sozialistischen Arbeitern, die ihn für die Gewerkschaft, die SPD und die freigeistige Bewegung und den Zentralverband der proletarischen Freidenker gewannen. Er beteiligte sich ab 1912 an der Kirchenaustrittsbewegung „Massenstreik gegen die Staatskirche“. 1913 heiratete Sievers seine erste Frau Marie. Sie stirbt schon 1916.

 

Weltkrieg und Revolution

 

Im Januar 1915 musste Sievers am ersten Weltkrieg teilnehmen und wurde bald  schwer verwundet (Unterleibschuss). Nach mehreren Operationen wurde er zuerst in Belgien, dann in Berlin zum Sanitätsdienst eingesetzt. In Belgien lernte er Denise Wauquieur kennen, die 1921 seine zweite Ehefrau wurde.

Der  Gegner von Militarismus, Krieg und „Burgfriedenspolitik“ der rechten sozialdemokratischen Führer, sympathisierte damals schon mit der von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geführten Spartakusgruppe. 1917 war er und Adolph Hoffmann in Berlin maßgeblich daran beteiligt, dass sich viele linke Sozialdemokraten der neuen USPD anschlossen.  Während der Novemberrevolution 1918 nahm er an vielen Demonstrationen und bewaffneten Kämpfen teil, war aktiv im Arbeiter- und Soldatenrat Neukölln und Mitglied der linken USPD. Besonders verbunden war er mit Ernst Däumig, dem Mitglied des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und einem theoretischen Kopf der Berliner Freireligiösen und der USPD. Ab Januar 1919 war Sievers Stadtverordneter in Neukölln und vom Sommer 1919 bis zum Spätherbst 1920 verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Arbeiterrat“. Er unterstützte die Forderung: „Alle Macht den Räten“ und kritisierte die Mehrheitssozialdemokratie. Er war der Ansicht, dass der Parlamentarismus auf Dauer jede sozialistische Partei korrumpieren müsse.2

Im „Arbeiterrat“ verteidigte er den Neuköllner Arbeiter- und Soldatenrat gegen die Angriffe der Reaktion: "Vor einigen Wochen konnte man in allen bürgerlichen Zeitungen wie auch in einem Teil der mehrheitssozialistischen Presse lesen, dass der in Neukölln amtierende kommunale Arbeiterrat, der fast durchweg aus Spartakisten bestehe, bestrebt sei, am Orte seiner Tätigkeit den Bolschewismus praktisch zur Durchführung zu bringen. Er beginne bereits, Häuser und Banken zu enteignen, setze den Magistrat ab, terrorisiere die gesamte Bürgerschaft und zwinge die Stadtkämmerer mit vorgehaltenem Revolver zur Herausgabe von Summen ... Niemand hat wohl über die albernen Erzählungen einer verlogenen Presse mehr den Kopf geschüttelt als wir, die wir als Mitglieder des Neuköllner Vollzugsausschusses diese Ungeheuer sein sollten ... Es gilt nun die Frage aufzuwerfen, ob alle diese Umstände berechtigen, Mutlosigkeit zu haben oder gar die Aufgabe des Kampfes zu predigen. Diese Frage muss auf das schroffste verneint werden. Der Kampf muss geführt werden mit aller Energie unter Zusammenfassung des gesamten Proletariats, im Zusammenarbeiten aller sozialistischen Parteien. Wer sich dem Kampf um diese Arbeiterräte entgegenstemmt, wer mutlos die Kinderkrankheiten dieser Institution als dauernde Übel ansieht und deswegen die Hände in den Schoß legt, der schlägt der Arbeiterschaft die schärfste Waffe gegen die Bourgeoisie aus der Hand, der zersägt die Grundpfeiler, auf denen sich der sozialistische Staat aufbauen soll und aufbauen muss."3

Sievers Tochter Margarete Krause, geb. Sievers erinnerte sich: "Mein Vater hat sich an der November-Revolution beteiligt und musste sich verstecken. Die Familie wohnte in der Lichtenrader Straße bei der Großmutter. Großmutter hatte uns Kinder eingeschärft, nicht sagen wo Papa ist. Er hat sich an den Straßendemonstrationen usw. beteiligt. Da war dann bei der Großmutter eine Hausdurchsuchung. Die Großmutter sagte zu meinem Vater, sieh zu Junge, dass Du Dich versteckst, die kriegen Dich noch. Ein Gastwirt hatte davon gehört und zu ihm gesagt, Du kommst rüber und versteckst Dich in meinem Schrank bis sich alles beruhigt hat. Das hat ja auch nicht lange gedauert, die ganze Atmosphäre. Großmutter war sehr krank, und wir Kinder mussten noch mal zur Apotheke, und da kamen wir nicht durch, wegen der Demonstrationen, weil alles belagert war. Das ganze hat vier oder fünf Wochen gedauert. Eines Tages kam mein Vater, der inzwischen im Rathaus arbeitete, und erzählte, dass er Stadtverordneter für die USPD geworden sein."4

 

Parteifunktionär und Redakteur

 

Seit 1920 war Sievers Mitglied der VKPD, („Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands“ nach dem Zusammenschluss von KPD (Spartakusbund) mit der linken USPD, deren beide Vorsitzende nunmehr Ernst Däumig und Paul Levi waren). Sievers wurde Sekretär der Zentrale und zeitweilig Redakteur der „Roten Fahne“. 1921, nach einer Kritik am „Putschismus“ der VKPD während der Märzaktionen, verließen zahlreiche Mitglieder die Partei (sog. „Liquidatoren“, darunter Paul Levi, Ernst Däumig, Max Sievers, Adolph Hoffmann, Bernd Menke und gründeten die KAG („Kommunistische Arbeitsgemeinschaft“). Die Mitgliederzahl der VKPD geht von da an bis 1924 von 359.000 auf 95.000 zurück). Sievers wird besoldeter Geschäftsführer der KAG und Herausgeber des Mitteilungsblatts der KAG, seine Neuköllner Wohnung ist deren Geschäftsstelle. Nach Differenzen mit Paul Levi kündigt Sievers 1922 bei der KAG. Nach dem Aufgehen der KAG in der USPD und deren Wiedervereinigung mit der SPD, finden sich viele ehemalige USPD/VKPD/KAG-Genossen in der SPD auf deren linkem Flügel wieder, so auch Sievers. In den Jahren der Weimarer Republik gehörte Sievers zu denen, die die Errungenschaften der Novemberrevolution, insbesondre die demokratischen Freiheiten, einschließlich der Trennung von Staat und Kirche, verteidigten.

 

Verein der Freidenker für Feuerbestattung

 

Am 1. Oktober 1922 wird Sievers hauptamtlicher Sekretär des „Vereins der Freidenker für Feuerbestattung“ (VdFfF). Der 1905 in Berlin gegründete Verein wird von ihm reorganisiert. Unter seiner maßgeblichen Führung gelang es, eigene für die Bestattung notwendige, Gewerke anzuschließen und den Verein nach und nach vom reinen Bestattungsverein zur politisch-weltanschaulichen Kultur- und Weltanschauungsorganisation zu verwandeln.

Zu Sievers Anfängen als Freidenker-Sekretär in der Friedrichshainer Friedenstraße, erinnerte sich seine Tochter: „Als Max Sievers 1932 zehn Jahre bei den Freidenkern war, gab es eine große Feier in einem Lokal. Banken haben Präsente geschickt, Bücher und Dokumente. Es war eine wunderbare große Feier. Er hat soviel Blumen bekommen, dass dann ein Pferdefuhrwerk gemietet werden musste, um die Blumen nach Hause zu fahren. Sein bester Freund hat auf der Feier eine Rede gehalten und den Antritt von Max Sievers 1922 beschrieben. Anfangs haben alle einen Schreck bekommen. Sievers trug eine gestreifte Hose und einen Gehrock, und dann nach ein paar Tagen haben ihm die Angestellten nahegelegt, so kann man hier nicht rumlaufen, du musst dir was anderes anziehen. Sievers sagte, ich hab doch nichts anderes anzuziehen. Dann haben alle zusammengelegt und haben dann eine Art Papieranzug gekauft, das sah aus wie Stoff. Später hat er das Geld für den Anzug zurückerstattet. …

Mein Vater war absolut eigensinnig. Eigenwillig und eigensinnig. Es gab keine großen Diskussionen, seine Meinung stand fest. Ich habe oft Debatten mit ihm gehabt und dann hat er dann zu meiner Großmutter gesagt, ich hätte nie gedacht, dass eine Tochter mit 16 Jahren so unbequem sein kann. Im Betrieb nannte man meinen Vater S. M. Also nicht M. S. für Max Sievers, sondern S. M.: Seine Majestät."5

Allerdings hatte der Freidenkerverband auch einen energischen Sekretär nötig, der Organisationstalent beweisen musste. Die Mitgliederentwicklung war rasant (1914: 738, 1918: 3.322, 1921: 138.704, 1923: 378.9536). Die Mitglieder hatten bestimmte Erwartungen, die der Verband aber nicht einlösen konnte: Sievers 1924 im Tätigkeitsbericht der Geschäftsleitung: „Da versprachen wir nun: Wir schicken euch Werbematerial, wir schicken euch Referentenmaterial, wir sorgen dafür, dass ihr Geld bekommt, und wir kommen bald wieder, um neue Bezirkskonferenzen auf einer anderen Basis zusammenzubringen. Aber, Genossen, gehalten haben wir davon damals so gut wie gar nichts (sehr richtig! und Heiterkeit); denn dann kam die Inflation …“7 Große Teile des Verbandsvermögens waren wertlos und die Organisation stand vor dem Ende. Der Verbandsleitung um Sievers gelang es allerdings, die Finanzen zu konsolidieren. Eine starke ökonomische Basis konnte sich der Verband durch den Aufbau eigener Wirtschaftsbetriebe schaffen: das Dampfsägewerk Wolfsmühle mit Sargtischlerei und Näherei für Leichentücher. Später kamen Automobile zum Leichentransport dazu und ein leistungsstarker Verlag mit einem Literaturvertrieb, sowie der Urania-Freidenker-Verlag in Jena.

Die Propagierung der Feuerbestattung bildete zunächst die Grundlage der Verbandstätigkeit. Hierzu erschien 1923 Sievers Schrift: „Warum Feuerbestattung?“ (2. Aufl.1925). Den Mitgliedern wurde darin an Verbandsleistungen geboten: „Nach Absolvierung der kurzen Karenzzeit … völlig kostenlose Bestattung. Wir liefern den Sarg, besorgen durch eigenes Personal das Einsargen der Leichen und übernehmen den Transport nach dem Krematorium. Wir übernehmen den Transport, falls sich im Sterbeort kein Krematorium befinden sollte, per Automobil oder per Eisenbahn … bis zu dem, dem Sterbeort am nächsten gelegenen Krematorium. Wir übernehmen ferner auf unsere Kosten die Stellung eines Redners und eines Sängerquartetts für die Trauerfeier, die Ausschmückung der Halle, die Bezahlung des Organisten, die Gebühr für die Grabstelle, wie auch die Erledigung aller Formalitäten mit dem Krematorium und den Polizeibehörden.“8

Sievers griff in dieser Broschüre zu drastischen Formulierungen: „Die Erdbestattung erzeugt, die Feuerbestattung verhindert Seuchenherde. Nehmen wir noch einmal jenen Friedhof als Beispiel, der mitten in einer Großstadt gelegen und rings von Häusern umgeben ist. Wir stellen fest, dass er etwa 5.000-6.000 Gräber enthält, die durchweg hier in den letzten 15 bis 20 Jahren geschaufelt und gefüllt wurden. Das bedeutet, dass unter der friedlich anmutenden und mit Blumen üppig geschmückten Erdoberfläche 5.000-6.000 Leichen ihren Verwesungsprozess vollziehen. Wir kennen den Übelkeit erweckenden Geruch, den ein winziges Stück Fleisch, ein einziger Knochen um sich verbreiten, wenn die Fäulnis eingesetzt hat. Wir können uns somit - vielleicht - eine Vorstellung davon machen, welche fürchterliche Pest sich knapp zwei Meter unter unseren Füßen verbreitet. Giftige Gase entwickeln sich dort, dringen durch zur Erdoberfläche und vergiften die Luft. Millionen und aber Millionen von garstigem Gewürm führen dort unten ein Schmarotzerdasein und erfüllen dann ihre Mission als Bazillenverbreiter. Ratten durchwühlen die Erde, mästen sich an den Leichen, um dann in ihre - in den Wohnhäusern gelegenen - Schlupfwinkel zurückzukehren und dort ihren giftigen Inhalt zu entleeren. Noch nicht genug damit, wie viele von den Körpern, die hier bestattet sind, mögen infolge ansteckender Krankheiten das Leben verloren haben. Mit den giftigen Bazillen im Körper sind sie hier versenkt worden, und niemand kann es verhüten, dass diese giftigen Bazillen von Ratten und Würmern, wieder an die Erdoberfläche geschleppt werden. - Wie viele giftige und schädliche Keime mögen hier ringsumher die Blumen und Gräser tragen, die diesem vergiftenden Stück Erde entsprossen, und wie leicht können harmlose Kinderchen, die ahnungslos ein Blümchen pflücken, dann diese Keime auf ihren Körper übertragen. Und ringsumher liegen die menschlichen Wohnstätten. Es dürfte überflüssig sein, nach dem, was wir soeben ohne Beschönigungen, aber auch ohne Übertreibung schilderten, noch auszumalen, welchen Gefahren die, die hier wohnen, durch die unheimliche Nachbarschaft ausgesetzt sind. Die Tragik dieser Gefahren wird noch erhöht durch den Zwang, unter welchem diese Menschen sich hier ansiedeln mussten. Freiwillig sucht sich niemand als Nachbarschaft einen Friedhof aus. - Noch niemals sah man, dass in der Nähe eines Friedhofes eine Villa, ein Palais oder ein Jagdschloss erbaut wurde. Was die Menschen zwang, hier ihr Heim aufzuschlagen, das ist die soziale Not, der Mangel an Wohnräumen, das Gebot, nehmen zu müssen, was an Wohngelegenheiten für sie übrig blieb.9"

 

Für einen einheitlichen Verband

 

Seit 1925 erschien die Zeitschrift „Der Freidenker“. Es kam zu einer Zusammenarbeit mit der seit 1922 existierenden RAG („Reichsarbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände“). 1924 trat der VdFfF der RAG bei und von 1926-1928 war Sievers Mitglied in dessen geschäftsführendem Ausschuss.

1927 gelang, auf Initiative Sievers, die Vereinigung der „Freidenker für Feuerbestattung“ mit der „Gemeinschaft Proletarischer Freidenker“ (GpF) herzustellen. Der GpF waren die finanziellen Probleme seit der Inflationszeit über den Kopf gewachsen und die Vereinigung war eine ökonomische Notwendigkeit. Selbstbewusst stellte noch 1925 Theo Mayer, der Vorsitzende, die GpF so dar: „Die Gemeinschaft proletarischer  Freidenker ist die jüngste, aber auch zugleich größte und einflussreichste Freidenkerorganisation nicht nur in Deutschland, sondern der ganzen Welt.“10

Die neue mitgliederstarke Organisation „Verband der Freidenker für Feuerbestattung“ war Sektion der „Internationale Proletarischer Freidenker“ mit Sitz in Wien (unter dem Vorsitz des österreichischen Sozialisten Prof. Theodor Hartwig). Mit der Vereinigung wurde Sievers zum Vorsitzenden des deutschen Verbandes gewählt, der sich 1930 in „Deutscher Freidenker-Verband“ umbenannte. Mit Gründung der „Internationalen Freidenker-Union“ wurde er Präsidiumsmitglied und einer der Sekretäre, 1933/34 deren Generalsekretär.

Am 21. Juli 1931 gelang es Max Sievers im Radio eine freigeistige Rede zu platzieren. Die erste Fassung wurde zensiert und nach Kürzungen kam es zu einer Übertragung. Obwohl es, im Gegensatz zu früheren Sendungen, keine Proteste kirchlicher Zuhörer gegeben hatte, schaltete sich diesmal Reichsinnenminister Joseph Wirth (Zentrum) persönlich ein. Sievers Formulierung „Wir brauchen keinen Gott“, hätte die Grenze der notwendigen Zurückhaltung überschritten und die „religiösen Gefühle“ der Gläubigen verletzt. Wirth verfügte, alle Freidenkersendung „bis auf weiteres“ aus dem Rundfunk zu nehmen.11

 

Freidenker im Spannungsfeld der Parteirivalitäten

 

Die Stellung des Freidenkerverbandes zwischen den konkurierenden Parteien SPD und KPD war nicht unproblemstisch. Sievers war SPD-Mitglied, hatte allerdings keine einflussreichen Funktionen oder Ämter inne. Konsequent lehnte Sievers die von der rechten SPD-Führung betriebene Politik der „Großen Koalition“ ab und wandte sich vor allem gegen deren Inkonsequenz in Religionsfragen. Der DFV, mit seinen über 600.000 Mitgliedern war eine starke sozialistische Kulturorganisation, in der alle Strömungen der stark zerstrittenen Arbeiterbewegung vertreten waren. So gab es etwa 1928 Wahlzettel zu den Verbandsgremien mit zwei Listen: „1. Liste Verbands-Aufbau“ des mehrheitlich sozialdemokratischen Vorstands und „2. Liste der Opposition“, der kommunistischen Funktionäre. Das Jahr 1928 war geprägt von heftigsten Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD. Heftigster Antikommunismus der Regierungspartei einerseits und „Sozialfaschismusthese“ anderseits, führten in den folgenden Jahren zur Spaltung von Gewerkschaften, Kulturverbänden, Arbeitersportverbänden und auch des Freidenkerverbandes. Sievers wurde, v.a. nach der Abspaltung der linken Opposition zur Hauptzielscheibe derer Kritik. Dabei ging es ihm in erster Linie um die Erhaltung der Organisation. In einer drohenden Majorisierung durch die, von der fraktionell von KP-Funktionären angeleiteten, linken Opposition, sah er den Bestand der gesamten Freidenkerorganisation in Gefahr. Es kam zu heftigen Differenzen und zur Abspaltung der Opposition mit Neugründung 1929, als der von KPD-Funktionären geleiteten „Zentralstelle Proletarischer Freidenker“ (Umbenennung 1931 in „Verband Proletarischer Freidenker“, Verbot am 3. Mai 1932).

Die Spaltung der Freidenkerbewegung blieb nicht auf Deutschland beschränkt. Der ehemalige Sekretär des tschechoslowakischen Freidenkerverbandes und Mitglied der Exekutive der Freidenkerinternationale Leopold Grünwald: „Auf Weisung der Komintern sollten die Kommunisten den im März 1931 nach Bodenbach einberufenen Kongress der ,Internationale Proletarischer Freidenker" (IPF), die unter sozialdemokratischer Führung stand, fraktionsmäßig majorisieren und unter KP-Führung bringen. Wir haben diese Weisungen sklavisch befolgt.  Dabei steuerte gerade diese Organisation unter Führung des Linkssozialisten Prof. Theodor Hartwig einen scharfen Kurs gegen die drohende Gefahr des Faschismus und war dabei für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten sehr aufgeschlossen.“

Die Spaltung der Arbeiterbewegung schwächte diese entscheidend und erleichterte damit den Faschisten die Machtergreifung. Der KP-geführten Freidenkerinternationale  IPF war auch nur ein kurzes Überleben vergönnt. Trotz Selbstkritik und Überwindung sektiererischer Fehler, wurde sie entgültig liquidiert  - von der eigenen Führung. Leopold Gründwald: „Obwohl mit der Linie des VII. Weltkongresses nicht nur ein Abgehen von der bisherigen sektiererischen Kominternpolitik, das heißt das Verständnis der Sozialdemokratie als "linkem Flügel des Faschismus" und als Hauptgegner der Kommunisten, sondern auch ein Abgehen vom sektiererischen Antiklerikalismus und die Herstellung eines besseren Verhältnisses zu den christlichen Arbeitern und Bauern verbunden war, wurde dies von der stalinschen Bürokratie nicht zur Kenntnis genommen, die einen vernichtenden Schlag gegen die Gottlosenbewegung in der UdSSR selbst vorbereitete. Es ergab sich die paradoxe Lage, dass die kommunistische IPF unter Leitung von Hans Meins viele ihrer sektiererischen Ansichten revidierte … und sich gerade dadurch beim NKWD (Sowjetischem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) verdächtig machte.  Nachdem Hans Meins mit Hilfe von Willy Münzenberg im Straßburger Promethée-Verlag ein Buch über den marxistisch-christlichen Dialog im Schatten der faschistischen und Kriegsgefahr herausgegeben hatte, wurde er zur Berichterstattung nach Moskau eingeladen. Er hatte - wie sich später herausstellte - eine Unterredung mit Dimitroff, die offenbar positiv verlaufen war, doch beim Verlassen des Kominterngebäudes wurde Meins vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und man hat seither niemals mehr etwas über sein Schicksal erfahren. Dieser Fall, mit dem die weitere Tätigkeit der IPF beendet war, muss auf dem Hintergrund der noch vor dem Zusammentritt des VII.  Weltkongresses der Komintern von J. W. Stalin angeordneten Liquidierung der Gottlosenbewegung begriffen werden. Die Büros und Presse- sowie Verlagsorgane des Verbandes wurden geschlossen - mit Ausnahme des von der KPdSU weiter herausgegebenen "Atheist". Zahlreiche Funktionäre mit den Vorsitzenden Prof.  Lukatschewskij an der Spitze wurden verhaftet und landeten im Gulag. Lukatschewskij ist dort offenbar zugrunde gegangen.“12

 

Emigration13

 

Schon vor 1933 versuchten die Nazis den DFV verbieten zu lassen. Am 13. Juni 1932 stellte die NSDAP-Fraktion des Preußischen Landtags einen Verbotsantrag. 1933, nach der Machtübergabe an die Faschisten am 30. Januar, versuchte Sievers zunächst die Arbeit des DFV als Feuerbestattungsverein weiterzuführen. Der Verein wurde allerdings unter Zwangsverwaltung gestellt, also faktisch verboten. Max Sievers wurde nach dem Reichtagsbrand in „Schutzhaft“ genommen und schwer misshandelt. Am 17. März stürmen SA-Horden die Zentrale des DFV in Berlin-Kreuzberg, Gneisenaustr. 41. Die Verwaltung des geraubten Verbandsvermögens wird unter Nazi-Treuhandschaft gestellt, die Mitarbeiter entlassen. Ab dem 20. Juli wird die Bestattungskasse als „Neue Deutsche Bestattungskasse“ weitergeführt.

Sievers kommt im April wider Erwarten frei. Er nutzte dies zur sofortigen Emigration. Von Berlin aus flüchtete er in die Schweiz und dann weiter nach Belgien, wo er bei Mons an der französischen Grenze bei Verwandten seiner Frau Denise (geb. Wauquier) unterkam. Seinen Hauptwohnsitz wählte er zunächst aber in Saarbrücken. Bereits mit der ersten Ausbürgerungsliste der Nazis vom 23. August 1933 wird Sievers, zusammen mit anderen bekannten Persönlichkeiten, wie Heinrich Mann, Wilhelm Pieck, Friedrich Stampfer, Otto Wels, u.a., ausgebürgert. Aus dem Saargebiet organisierte Sievers 1933-1935 die Herausgabe des „Freidenker" und dessen illegalen Vertrieb nach Deutschland. Die Herausgabe finanzierte er aus dem, vor den Nazis geretteten Teil des DFV-Verbandsvermögens. Das Verbandsvermögen belief sich 1933 auf ca. 5,5 Millionen RM, das von den Nazis geraubt wurde. Rund 700.000 RM konnten von Sievers gerettet werden und wurden in der Schweiz und den USA angelegt. 

Der Anschluss des Saargebiets ans „Reichsgebiet“ 1935 beendet diese Möglichkeit. Belgien, die Heimat seiner Frau, wird für die folgenden Jahre sein Aufenthaltsort. In Brüssel beziehen sie eine Stadtwohnung.

Max Sievers schrieb 1935 im „Der Freidenker“: „Durch diese Entwicklung gerät die Freidenkerbewegung in eine höchst gefahrvolle Lage. Als organisatorisches Gebilde größtenteils recht schwach, muss sie schon in Zeiten eines ruhig dahin fließenden politischen Lebens gegen die unendlich starke Übermacht des kirchlichen Gegners ankämpfen. Ihre Lebenskräfte werden künstlich geschwächt, die der Kirche künstlich gesteigert. Die Kirche genießt durch die bürgerliche Gesetzgebung eine fast unbeschränkte Monopolstellung, ihr stehen ungeheure finanzielle Möglichkeiten zur Verfügung, sie beherrscht sowohl die Erziehung in der Schule, wie sie stärksten Einfluss auf alle öffentlichen Beeinflussungsapparate auszuüben vermag. Sie ist solange ein unbezwinglicher Gegner, solange nicht ihrer politischen Macht im Staate Einhalt geboten werden kann. …

Und hier liegt die Schwäche wie auch die Ursache der nicht wegzuleugnenden Stagnation in der Freidenkerbewegung. Von allzu vielen Stellen in ihren Reihen setzt im selben Augenblick, in dem politische Notwendigkeiten zur Erörterung kommen, die Abwehr ein. Man will nichts von Politik wissen, will nicht anstoßen, will neutral sein: Politik ist Privatsache.

Als der Deutsche Freidenker Verband vom Nazismus gezwungen wurde, seine legale Existenz aufzugeben, erhielt die These, dass eine Freidenkerbewegung «unpolitisch» sein müsse, neue Nahrung. Es wurde die irrige Auffassung verbreitet, dass erst durch die Propagierung einer politischen Tendenz der Vorwand für reaktionäre Gewaltmassnahmen geschaffen werden würde. Es verlohnt sich heute kaum noch gegen solche Auffassungen zu polemisieren, denn sie sind inzwischen durch recht drastische Tatsachen wiederlegt worden.

Der Nazismus hat in Deutschland auch den durchaus unpolitischen Monistenbund ausgelöscht und dazu noch Gebilde, die um ein Vielfaches harmloser waren. Sogar der Bund freireligiöser Gemeinden, der sich am Anfang willig gleichschalten ließ und in schamloser Weise unter Verleugnung seiner Vergangenheit Hitler huldigte, wurde in Preußen durch ein Dekret Görings aufgelöst. Dieselbe Entwicklung sahen wir in Österreich, wo neben dem sozialistisch orientierten Freidenkerbund auch die Organisationen vernichtet wurden, die von jeher das Prinzip der politischen Neutralität bis zur vollendeten Spießerei durchgeführt hatten. Dieselbe Entwicklung auch in den anderen Ländern, in denen die Staatsgewalt diktatorische Formen annahm. …

Der Konflikt in der deutschen protestantischen Kirche beweist überzeugend, wie indifferent selbst die kirchlichen Wortführer der eigenen Lehre gegenüberstehen, und welches Maß voll weltanschaulicher Konfusion in ihren Reihen herrscht. Die Haltung der an sich fester gefügten katholischen Kirche überall dort, wo der Faschismus herrscht, ist immer augenfälliger von dem Bestreben beherrscht, die eigene Glaubenslehre den politischen Bedürfnissen der weltlichen Machthaber anzupassen. …

Es gilt daher zu erkennen. Die Methode der rein wissenschaftlichen Aufklärung birgt nicht mehr die Möglichkeit in sich, Massenwirkungen zu erzielen. Ohne die Möglichkeit breite Volksmassen für den antikirchlichen Kampf zu gewinnen, kann der politische Einfluss der Kirche nicht gebrochen werden. Auch die Zurückdrängung der klerikalen Machtpositionen durch die demokratischen staatlichen Einrichtungen ist nirgends mehr zu beobachten, eher kann gesagt werden, dass mit Hilfe der Kirche die bürgerliche Demokratie abgebaut wird. Die politische Entwicklung lässt nur noch die Perspektive zu: Faschistische Diktatur oder soziale Revolution.“14

Die politischen Emigranten um Sievers nannten sich „Bewegung Freies Deutschland“ (Sievers-Gruppe), bestehend vorwiegend aus SPD-Linken. Die publizistische Tätigkeit begann 1934 zusammen mit Leo Friedmann mit der Herausgabe der Informationsbriefe „Sicherheitskorrespondenz“ (SIKO).15 Die SIKO wurde nicht nur in Emigrantenkreisen, sondern auch illegal im Reichsgebiet vertrieben. Gleich die erste Numer betonte, sie handle „weder im Auftrage noch mit Hilfe einer der bestehenden politischen Parteien“. Die gescheiterten Konzepte der Arbeiterparteien, angesichts der Niederlage von 1933, wurden einer gründlichen Kritik unterzogen. Schon 1914 seien falsche Entscheidungen getroffen worden, insbesondre der reformistische Kurs der SPD. Die Aufgabe der revolutionären Perspektive in der Theorie und eine Praxis, die allein auf reformistische Mittel bei der Umwandlung der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft setzte, habe endlich zum Fehlverhalten von 1933 geführt.16 Auch die KPD habe versagt. Nötig sei deshalb eine völlig neue proletarische Bewegung, die sich „grundsätzlich von der früheren Arbeiterbewegung unterscheide“, als Vorbedingung zur Durchsetzung der sozialen Revolution. Nur so könnte der Faschismus, als letzter Versuch des Kapitalismus, seinen Untergang zu hinauszuzögern, samt seinen Kriegsvorbereitungen verhindert werden. Darum sei der Sturz des Faschismus nur als antikapitalistische Revolution denkbar.17 Politisches Ziel für die Zeit nach dem Sturz des Faschismus sollte eine Räterepublik werden, anknüpfend an die Vorstellungen der Novemberrevolution 1918. Nur die Räte könnten die Verwaltung von Staat und Gesellschaft durch das Proletariat sichern und die Restauration der bürgerlichen Kräfte verhindern. Sievers sah die Räteidee als „strategischen Leitgedanken der Gegenwartsaufgaben der Arbeiterklasse“ und den „einzigen reellen Kristallisationspunkt aller revolutionären Einheitsbestrebungen.“18

 

Unterstützung des Volksfrontgedankens

 

Am 20. Dezember 1935, ausgehend von den Treffen des Lutetiakreis (Pariser Hotel Lutetia), rief Heinrich Mann zur Bildung einer „deutschen Volksfront“ gegen den Faschismus auf, der von Sievers, zahlreichen Schriftstellern und Vertretern der Exil-SPD, KPD und SAP unterschrieben wird.19

Am 1. März 1936 veröffentlichte Sievers einen programmatischen Aufruf, „Nur ein Weg führt zum Ziel“20 Darin wurde der Volksfrontgedanken für Deutschland unterstützt. Kritisiert wurde jedoch die fehlende Perspektive für die Zeit nach dem Sturz des Regimes. Nach seiner Auffassung wäre der Faschismus nur durch eine antikapitalistische Revolution im Reich zu stürzen. In den Diskussionsentwürfen von SPD und KPD fehlten ihm diese Aspekte. Er erkannte darin opportunistische Zugeständnisse an die bürgerliche Emigration. Nach seiner Auffassung könne eine Volksfront nur „die bürgerliche Demokratie gegen den eindringenden Faschismus“ verteidigen. Den Faschismus an der Macht, könne aber nur eine sozialistische Einheitsfront stürzen.21 Ziel sollte sein: „Sturz der nazistischen Diktatur – Überwindung des kapitalistischen Systems – Aufbau der sozialistischen deutschen Republik.“

 

Kritik an der Exil-SPD

 

Dass es zu keiner einheitlichen sozialistischen deutschen Einheitsfront gekommen ist, lag an den politisch verhärteten Fronten von SPD und KPD. Insbesondre die Exil-SPD (Sopade) in Prag unter  dem Vorsitzenden Otto Wels beäugte Sievers äußerst misstrauisch. Sievers musste feststellen: „Seit 1918 stehe ich auf dem Standpunkt, dass die Arbeiterbewegung neue Wegegehen muss und dies nur revolutionäre Wege sein können.“ Seit 1928 habe er resigniert und dazu nichts mehr gesagt, aber die Ereignisse von 1933 hätten gezeigt, dass nur einem sozialistisch-revolutionären Konzept die Zukunft gehöre.22 Die Prager Sozialdemokraten seien nicht mehr als Repräsentanten der Arbeiterbewegung anzusehen, man müsse einen entgültigen Trennungsstrich ziehen und ohne die Sopade neue sozialistische Zielprojektionen entwickeln.23

 

Freies Deutschland

 

Seit dem 14. Januar 1937 gab Sievers zunächst in Antwerpen/Belgien, dann in Paris die Wochenzeitung: „Das freie Deutschland“ heraus. Als Redakteur holte sich Sievers u.a. Leo Friedmann und den jungen Heinz Kühn (späterer Ministerpräsident von NRW). Eine Beschreibung der Tätigkeit Sievers in der Emigration und über den Vertrieb des Freien Deutschland, gab Karl Retzlaw in seinen Erinnerungen wieder: „Ich übernahm nun auch den Vertrieb der Wochenzeitung "Freies Deutschland", die Max Sievers in Brüssel herausgab, für Paris und Frankreich. Max Sievers war der frühere Vorsitzende des "Deutschen Freidenkerverbandes". Wir kannten uns flüchtig aus Berlin-Neukölln. In Paris hatten wir uns bei Berthold Jacob näher kennen gelernt und er hatte mich gleich beim ersten Treffen gebeten, den Vertrieb seiner Zeitung in Paris zu übernehmen. Ich konnte gern zusagen, denn das Programm Max Sievers und seines Kreises widersprach meinen Ansichten gar nicht. Sievers und sein Hauptmitarbeiter "Rudolf Lang", heute Professor an einer Technischen Hochschule, hatten eine Beteiligung an Münzenbergs "Einheitsfront" abgelehnt. Sievers befürchtete mit Recht, dass die "Einheitsfront" die nötige Klärung der künftigen politischen Aufgaben nur verhindern könnte, für deren Diskussion später, nach Beseitigung der Naziherrschaft keine Zeit sein werde. Max Sievers war für die Gründung einer neuen sozialistischen Partei, die eine Arbeiterpartei sein müsse. Er schrieb: " ... die stärkste Interessengemeinschaft wächst auf dem Boden gleicher sozialer Funktionen ... Was der Nazismus verkörpert, mit seiner gleißenden Propaganda, seiner betörenden Massenregie, seinem Terror, seinem Führerkult und seinen zu schauderhaften Grimassen verzerrten Ideologien, das alles ist die aufs Ganze gerichtete imperialistische Kriegstrommel des deutschen Großkapitals. Armee und Kapital haben nicht eine wirksame Parole, die sie der Diktatur entgegenstellen könnten. ... Sie sind zusammengeschweißt, die drei Mächte Partei, Armee und Kapital; sie müssen zusammen in den Krieg marschieren, der ihre letzte Chance ist. Auf dem Gipfel seiner Zerstörungswut muss der Faschismus zum Zerstörer seiner eigenen Herrschaftsgrundlage werden . . .   Der "Deutsche Freidenkerverband war in Deutschland … verboten worden. Es war Sievers möglich gewesen, einen Teil des Vermögens des Verbandes zu retten. Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei war nicht so vorausschauend gewesen. Jetzt aber wollte er gern einen Teil des Geldes von Sievers haben. Obgleich Mitglied der Partei, lehnte Sievers das Ansinnen ab und gab mit dem Geld seine Zeitung "Freies Deutschland" heraus, die weit zielklarer und kämpferischer geschrieben war als der "Neue Vorwärts", der nach wie vor von Friedrich Stampfer geleitet wurde.

Die Wochenzeitung "Das Freie Deutschland" wurde in Brüssel gedruckt, zeitweilig aber auch, wenn Max Sievers in Brüssel Schwierigkeiten hatte, in Creil, nördlich von Paris. Wenn sie in Brüssel gedruckt wurde, holte ich sie immer direkt vom Zuge ab und brachte sie zu denjenigen Zeitungsständen, die sich bereit erklärt hatten, sie zum Verkauf auszuhängen. Es waren ungefähr 15 Kioske in ganz Paris. Nur unabhängige Kioske, das heißt solche, die nicht den großen Vertriebsgesellschaften gehörten, nahmen meine Zeitung an. Das waren meistens Bretterbuden, die über und über behängt waren mit Zeitungen und Zeitschriften aller Sprachen und Länder - und deren Emigrantengruppen. Die Inhaber der Kioske konnten oft die Titel ihrer Zeitungen selbst nicht lesen. Sie ersuchten mich, einen Platz zwischen den anderen Zeitungen für meine jeweils 10 bis 15 Exemplare zu finden, die Zeitungen hinzuhängen und nach einer Woche mit der neuen Nummer wiederzukommen. Ich nahm dann die unverkauften Zeitungen fort, die fehlenden Exemplare galten als verkauft. Ich erhielt mein Geld und hängte die neue Ausgabe hin. Das war eine Arbeit von 3 bis 4 Stunden in der Woche. Der Absatz in Paris schwankte zwischen 200 bis 300 Exemplaren pro Ausgabe. Die Arbeit machte ich fast zwei Jahre lang, bis ich in der letzten Phase des Bürgerkrieges in Spanien von anderer Arbeit so in Anspruch genommen wurde, dass ich die Zeitungsarbeit an einen Freund abgab, der mich bereits öfters vertreten hatte. Als die Deutschen Belgien überfielen, war Sievers abgeschnitten. Nach dem Kriege erfuhr ich, dass er denunziert, nach Berlin-Plötzensee gebracht und dort hingerichtet worden sei. Das Programm seiner Zeitung und seiner Anhänger hat Max Sievers in einem Buch zusammengefasst, das unter dem Titel "Unser Kampf gegen das Dritte Reich" 1939 in einem Stockholmer Verlag in deutscher Sprache erschienen ist.“24

 

Unser Kampf gegen das Dritte Reich25

 

Sievers wichtigste Publikation der Emigration „Unser Kampf gegen das Dritte Reich“ fasste die bisher entwickelten Standpunkte zur Politik der Opposition gegen den Nazismus zusammen. Meiner Ansicht nach die beste Schrift, die der deutsche antifaschistische Widerstand hervorbrachte. Es erfolgt zunächst eine exakte Analyse des deutschen faschistischen Imperialismus. Die herrschenden Schichten, Parteiführung, Armee, Kapitalisten werden analysiert und deren spezifische Interessen untersucht. Trotz Verschiedenheiten, sind diese „zusammengeschweißt, die drei Mächte, Partei, Armee und Kapital; sie müssen zusammen in den Krieg marschieren, der ihre letzte Chance ist. Ob sie sich hassen oder lieben, sie werden gemeinsam marschieren, solange ihnen die Revolution nicht den Weg versperrt.“26

Der Weg der revolutionären Bewegung und die befreite Gesellschaft bilden den weiteren Schwerpunkt und soll deshalb hier ausführlicher dargestellt werden: „Der Weg von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft vollzieht sich in einem Prozess, dessen erste und dessen letzte Stunde niemals genau festgestellt werden kann. Schon in der Abstiegsperiode des Kapitalismus nimmt er sozialistische Elemente in sich auf, noch im weit fortgeschrittenen Stadium der siegreichen sozialen Revolution werden sich kapitalistische Rückstände in ihm erhalten. So wenig die Revolution damit beginnen kann, dass sie jeden Händler und jeden Flickschuster "sozialisiert", so wenig kann sie den Sozialismus auf das Land tragen, wenn dort die menschlichen Voraussetzungen noch nicht erfüllt sind. …

In den ersten Stadien der sozialen Revolution wird der Aufbau neuer ökonomischer Fundamente zum beherrschenden Faktor des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Nichts wäre falscher, als hier nur eine organisatorische Aufgabe zu sehen, denn von der Art ihrer Lösung wird entscheidend die politische und geistige Struktur des künftigen gesellschaftlichen Lebens bestimmt. Wo die Möglichkeiten eines sozialistischen Wirtschaftsaufbaues theoretisch diskutiert werden, kann man in der Hauptsache drei Strömungen feststellen.

Die eine sieht das Schwergewicht aller zu treffenden Maßnahmen im staatlichen Dekret. Eine Elite von Funktionären besetzt den Staatsapparat und lenkt in Form einer staatlichen Diktatur alles politische und wirtschaftliche Leben.

Eine zweite widerstrebt jedem staatlichen Zwang und sogar jedem Zentralismus. Es sind die Arbeiter eines Betriebes, die zu seinen Eigentümern und Lenkern werden, jeder Betrieb bildet für sich eine sozialistische Insel.

Die dritte Strömung ist dafür, dass die Betriebe gewissermaßen an Unternehmer verpachtet werden. Der Unternehmer genießt alle Bewegungsfreiheit als solcher, behält auch seine bevorzugte soziale Stellung. Durch staatliche Maßnahmen aber, und auch dadurch, dass die Arbeiter anteilmäßig am Betriebsertrag beteiligt sind, soll verhütet werden, dass der Unternehmer sein Kapital vermehren kann.

Wir distanzieren uns mit aller Entschiedenheit von den Tendenzen aller dieser Strömungen. Wir sehen weder das Heil in einer bürokratisierten Wirtschaft, noch glauben wir daran, dass im modernen Produktionsprozess wirtschaftliche Inseln gebildet werden können. Wir sind auch nicht für faule Kompromisse, die mit Unternehmern abgeschlossen werden sollen. Für einen sozialistischen Wirtschaftsaufbau gelten nach unserer Auffassung drei Grundprinzipien:

1) Sozialistische Wirtschaft ist Planwirtschaft, sie hat den obersten Zweck dem Gemeinwohl zu dienen. Eine Planwirtschaft erfordert für alle Produktionszweige, für die industrielle wie die Agrarproduktion bindende zentrale Richtlinien und eine hinter diesen Richtlinien stehende starke Zentralgewalt.

2) Sozialistische Wirtschaft hat eine höhere kulturelle Stufe zu erstreben, als sie von der kapitalistischen Wirtschaft eingenommen worden ist. In der Qualität ihrer Produkte, der Beschaffenheit aller Produktionseinrichtungen, der Verfeinerung ihrer Methoden, ihrer Anpassungsfähigkeit an alle Situationen des Bedarfs, soll sie beispielgebend und kulturfördernd wirken, sie kann und darf deshalb nicht bürokratisch geleitet sein.

3) Sozialistischer Wirtschaftsaufbau ist nur das Mittel zum Zweck der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Eine sozialistische Gesellschaft kann nur demokratisch fundiert sein. Sozialismus und Diktatur sind Begriffe, die sich gegenseitig ausschließen. Im Sozialismus entwickelt sich die sozialistische Demokratie. Das ist die Demokratie einer Gesellschaft, in der es keine sozialen Privilegien mehr gibt.

Wenn diese Prinzipien durchgeführt werden sollen, und ohnedem können wir uns keinen sozialistischen Aufbau vorstellen, dann stehen die Erfordernisse dieses Aufbaus klar vor uns.

Die Planung erfordert eine feste Zentralgewalt, die kulturellen und materiellen Ansprüche an eine sozialistische Wirtschaftsführung können aber nur erfüllt, werden, wenn die einzelnen Wirtschaftskörper auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufgebaut sind, wenn schöpferische Initiative sich frei entfalten kann, wenn die Grenze nur dort gezogen wird, wo die Richtlinien der Planwirtschaft ihre strenge Beachtung finden müssen. Die Verbindung zwischen der Zentralgewalt und dem Volksganzen wird durch den demokratischen Aufbau von unten nach oben hergestellt, der sowohl der neuen Wirtschaftsform wie dem gesamten gesellschaftlichen Leben das charakteristische Gepräge geben soll.

Natürlich wird eine solche gewaltige Umstellung sich nicht reibungslos vollziehen, oftmals werden psychologische Faktoren sehr hemmend auftreten. Das aber spräche nicht gegen den Sozialismus, sondern ist nur das Schicksal aller Revolutionen, die gesellschaftliches Neuland beackern sollen, und von Menschen geführt werden, die noch in der Denkart der alten Welt erzogen worden sind. Darin liegt ja gerade das Merkmal einer Revolution, dass sich in ihr täglich der Zusammenstoss zwischen dem Alten und dem Neuen vollzieht, bis sich das Neue schließlich siegreich durchsetzt.

Aber es kann gar nicht geleugnet werden, dass in Deutschland für die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in eine sozialistische Planwirtschaft die wichtigsten objektiven wie subjektiven Voraussetzungen gegeben sind: Eine lückenlos aufgebaute, qualitativ sehr hochstehende Industrie, eine Armee von geschulten Arbeitern, Angestellten, Technikern, Ingenieuren, die nicht nur alle Regeln des modernen Wirtschaftslebens beherrschen, sondern auch diszipliniert und mit einem starken Verantwortlichkeitsgefühl ausgestattet sind. Dazu die große Begabung des Deutschen für organisatorische Dinge, dies alles sind entscheidende Faktoren für das Gelingen des Werkes.

Auf dem Wege zum letzten Ziel werden viele Übergangsetappen liegen. Sie werden nicht durch eine engstirnige Dogmatik überwunden werden können, sondern nur durch eine nüchterne Einschätzung des Zweckmäßigen und des Erreichbaren. Die einzige allerdings entscheidende Maßnahme, die kompromisslos am Anfange der großen Umwälzung zu stehen hat, ist die absolute wirtschaftliche wie politische Entmachtung des Großkapitals und des Großgrundbesitzes.

Zwischen dem Großkapital und der Klasse aller Werktätigen steht der gewerbliche Mittelstand. Er hat in Deutschland keine machtpolitische Bedeutung mehr und wird sie auch nicht mehr erlangen. Seine soziale Lebenshaltung unterscheidet sich oft kaum von der des Proletariates, zudem ist er durch die Konkurrenz des Großkapitals und durch mancherlei Maßnahmen des nazistischen Regimes stark dezimiert worden.

Dieser Mittelstand hat von der sozialen Revolution nichts zu fürchten. Ob er sich in seinen jetzigen Positionen wird halten können, ob er noch stärker auf die abschüssige Bahn gerät, das ist keine Frage sozialistischer Programmatik, sondern ist abhängig von der Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens, die allerdings ungünstig für den Mittelstand verläuft.

Jedenfalls droht diesem Mittelstand in der sozialen Revolution nicht die Gefahr einer Enteignung, auch er wird als selbstständiges Glied in die Planwirtschaft eingebaut, und auch er erhält in diesem Aufbau gemäss seiner Bedeutung eine Vertretung.“27

Die sich ankündigenden Kriegsereignisse zwangen das „Freie Deutschland“ zur Einstellung ihres Erscheinens, mit der letzten Ausgabe vom 24. August 1939.

 

Zweiter Weltkrieg

 

1939/1940 hielt sich Sievers in den USA auf um von dort das „Freie Deutschland“ weiterzuführen und das restliche Verbandsvermögen aus der Schweiz dorthin zu transferieren. Außerdem veröffentlichte er die Broschüre „Das antifaschistische Kriegsziel“. 1940 kehrte      er nach Belgien zurück. Im Mai wird Sievers verhaftet, kann aber durch glückliche Umstände nach Frankreich fliehen und - nachdem ihm ein Einreisevisum für die Schweiz verweigert worden war - bis 1943 unbehelligt von den Besatzungsbehörden in Nordfrankreich untertauchen und dort mit gefälschten Papieren, als „Denise und Henri Loth“, in Chereénge bei Lille leben.

Die Tochter Margarethe: "1940 ist mein Vater aus dem Exil in den USA noch einmal nach Belgien zurückgekehrt. Seine Schwiegermutter lag im Sterben und seine Frau wollte sie noch einmal sehen. Und dann kamen sie nicht mehr zurück in die USA. Das war sein Schicksal. Dann marschierten die Deutschen in Belgien ein, da musste er dann seine Wohnung räumen. Die Wohnung wurde von der Deutschen Feldpolizei beschlagnahmt. Mein Vater musste nach Nordfrankreich fliehen."

"Meine Stiefmutter hat politisch zum Vater gehalten. Das hat mir sogar die Gestapo bei einem Verhör erzählt. Mein Vater und meine Mutter haben sich wunderbar verstanden. Im Exil in Belgien hat meine Mutter Angorakaninchen gezüchtet, aus der Wolle hat sie Sachen gestickt, das haben sie verkauft und davon gelebt in Belgien, denn sie hatten ja kein Geld. An seine Konten konnte er ja nicht 'ran, er hat ja anonym gelebt."28  

Die beiden hielten sich mit landwirtschaftlichen Gelegenheitsarbeiten und Kaninchenzucht über Wasser. Über einen Verwandten versuchten sie Geld aus der Schweiz zu beschaffen. Doch der Bote wurde verhaftet und gezwungen seine Auftraggeber preiszugeben. So wurde Sievers am 3. Juni 1943 wurde enttarnt und verhaftet.

 

In den Händen der Faschisten

 

Er kommt nach Berlin in das berüchtigte Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße, später ins Untersuchungsgefängnis Berlin-Plötzensee.

Die Tochter Margarethe: "Nach der Verhaftung meines Vaters bin ich hin zum Polizeirevier Alexanderplatz und hab mich da gemeldet und gesagt, ich bin die Tochter, ich hätte gerne mal meinen Vater gesehen. Man hat mir gesagt, mein Vater will mich nicht sehen. Er hat extra gesagt, wenn seine Tochter kommt, er möchte seine Tochter nicht sehen. Mein Onkel hat mir dann erzählt, mein Vater hätte der Gestapo gesagt, er hätte mit seinen Kindern Schluss gemacht. Die Kinder hätten den Vater nicht mehr verstanden und politisch andere Auffassungen gehabt. Das hat er gesagt, um uns zu schützen. Nach seiner Hinrichtung hab ich sein persönliches Eigentum erhalten, ein paar Nähnadeln, ein bisschen Garn, ein paar Knöpfe und was er sonst noch privat bei sich hatte, ganz belangloses Zeug. Dann stand in dem Begleitbrief, dass mein Vater am 17. Januar hingerichtet worden sei. Und die Prozesskosten von 300, - Mark musste ich tragen. Die 300,- Mark musste ich mir von meinem Onkel borgen."29

Aus dem Zuchthaus schrieb Max Sievers am 22. September 1943 folgenden Brief an eine Verwandte:

"Liebe Grete, wenn auch meine Geburtstagsgratulation mit erheblicher Verspätung eintreffen wird, so ist sie darum nicht weniger herzlich gemeint. Möge Dir eine glückliche Zukunft alles das bringen, was diese Gegenwart so grausam versagt: Frieden, Ruhe, Glück und eine verminderte Sorgenlast.

Seit einem Monat bin ich nun in diesem Haus und leider von aller Welt abgeschieden. Von Euch habe ich nichts mehr gehört und auch von Denise liegt immer noch keine Nachricht vor. Ich klage zwar nicht, aber dieser Zustand stellt doch wirklich eine schwere seelische Belastungsprobe dar.

Wenn Ihr an mich schreiben wollt, so gilt dafür die oben von mir eingerahmte Adresse. Für den Fall, dass Du mich besuchen willst, habe ich einen Besuchsschein für Dich erbeten. - Ich würde mich sehr freuen. Ich kann alle vier Wochen einmal Besuch haben. Besuchsdauer 15 Minuten. Lebensmittel und Rauchwaren dürfen nicht mitgebracht werden. Die Wäsche wird hier gewaschen. Das sind harte Bestimmungen, eben so falIe ich Euch wenigstens nicht zur Last. Schön wäre allerdings, wenn Ihr ein Stück Seife für mich auftreiben könntet. Falls Ihr noch einmal nach Denise Nachforschungen anstellen wollt, so käme dafür die nachstehende Adresse ihres Neffen in Betracht: Mons. Leon Lété, rue de la Digue 195 Paturages/ Nons Belgien. Briefe in deutscher Sprache würde er allerdings nicht lesen können. So das wäre alles was ich auf dem Herzen habe. Nun seid herzlich gegrüßt, ebenso Robert, die Kinder und alle unsere Geschwister. Hoffentlich sind alle, trotz der Aufregungen dieser Zeit bei bester Gesundheit geblieben und hoffentlich bleiben sie es auch in Zukunft. Es wünscht Euch von Herzen Euer Max.“30

Anfang 1944 wurde Sievers in das berüchtigte Zuchthaus Brandenburg-Görden verlegt. Dort traf er den katholischen Geistlichen Dr. Max Metzger wieder, den er im Gestapo-Keller Prinz-Albrecht-Straße kennen gelernt hatte. Auch Max Metzger sollte am 14. Mai 1944 von den Nazis hingerichtet werden. Ihm wurde die Ehre zuteil, in die beiden Bände „Deutsche Widerstandskämpfer“31, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, aufgenommen zu werden. Eine Ehre, die einem Max Sievers, nach der Auswahl der Herausgeber, nicht  zukam.

Metzger jedenfalls schrieb am 29. August 1943 in einem Brief über Sievers: "Wenn ich von meiner Umwelt spreche, so denke ich dabei nicht einmal zuerst an den Vorsitzenden des Deutschen Freidenker-Verbandes, der bis vor ein paar Tagen mein Zellennachbar war. Trotz der weltanschaulichen Kluft, die uns trennte, standen wir uns doch in gegenseitiger Achtung näher als andere. Ich fand in ihm den Charakter, der vornehm und gerecht urteilte und gute Kameradschaft pflegte. Ja, ich möchte irgendwie einen solchen Menschen mehr zur Gemeinde Christi rechnen als soviele Getaufte. Ich habe nicht das Recht, über das jenseitige Schicksal eines Menschen zu urteilen. Jedenfalls ist es mein Glaube, dass verloren im eigentlichen Sinne, zur Hölle bestimmt, nur ist, wer wider seine Gewissensüberzeugung stand. Wieviel Christen sind da freilich schlechter dran als die 'Heiden'."32

Am 17. November 1943 wurde Max Sievers vom 1. Senat des Volksgerichtshofs unter Roland Freisler wegen „Vorbereitung zum Hochverrat mit Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt:

„Im Namen des Deutschen Volkes. In der Strafsache gegen den Emigranten und früheren Vorsitzenden des Deutschen Freidenkerverbandes Max Wilhelm Georg Sievers, zuletzt wohnhaft gewesen in Chérengm Nordfrankreich, geboren am 11. Juli 1887 in Berlin, staatenlos, zur Zeit in dieser Sache in gerichtlicher Untersuchungshaft, wegen Vorbereitung zum Hochverrat, hat der Volksgerichtshof, 1. Senat, auf Grund der Hauptverhandlung vom 17.November 1943, an welcher teilgenommen haben als Richter: Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Freisler, Vorsitzer, Landgerichtsdirektor Stier, NSKK-Obergruppenführer Offermann, SA-Gruppenführer Dr. von Helms, Ministerialrat im OKW Dr. Herzliet, als Vertreter des Oberreichsanwalts: Amtsgerichtsrat Stark, für Recht erkannt: Max Sievers, in der Systemzeit Leiter des Freidenkerverbandes, hat zunächst 700.000 RM Arbeitergroschen zu seiner Verfügung ins Ausland verschoben, ist 1933 emigriert und hat dann jahrelang mit Hilfe dieser Arbeitergroschen in eigenen Hetzschriften,  Broschüren und Reden gegen unser deutsches Volk und Reich gehetzt, von der Sicherheit des Auslandes aus feige an einer Revolution der Illegalität und der Emigration gegen unsere nationalsozialistische Lebensführung als Volk gearbeitet, zur Zersetzung unserer Armeen aufgefordert, in vielen Veröffentlichungen Deutschland vor aller Welt als Kriegsschürer beschimpft und schließlich, im Kriege öffentlich in Europa und Amerika als Ziel die Niederlage unseres nationalsozialistischen Deutschland proklamiert, und die Meinung verbreitet, Deutschland werde von innen heraus zusammenbrechen ...“33

Am 17. Januar 1944 wird Max Sievers im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil hingerichtet. Bis zum Schluss blieb er seiner sozialistischen Überzeugung treu, wie aus den faschistischen Prozessakte hervorgeht.

1946 ermittelten Verwandte und Bekannte, dass Sievers Urne noch im Brandenburger Krematorium stand. Im Februar konnten die sterblichen Überreste auf dem Urnenfriedhof in Berlin-Wedding, Gerichtsstrasse, beigesetzt werden. Am 10. Februar 1952 wurde, in Gegenwart von Verwandten und vielen alten Kampfgefährten, ein Denkmal eingeweiht. Seit dem 40. Todestag, 1984, erinnert am letzten Sitz des DFV vor 1933, in der Gneisenaustraße 41, in Berlin-Kreuzberg, eine Gedenktafel an Max Sievers. Das Unrechtsurteil an Sievers wurde erst 1996 vom Landgericht Berlin förmlich aufgehoben (Az. 517 AR9/96-2P-Aufhebung 6/96).

 

Max Sievers in der antifaschistischen Geschichtsschreibung

 

Den antifaschistischen Kampf von Max Sievers und Genossen findet man erstaunlicherweise nur sehr wenig dokumentiert. Antifaschistische Literatur und Geschichtswerke gibt es gar nicht wenig, aber Max Sievers sucht man nahezu vergebens. Weder in westlich-sozialdemokratischen, noch in „realsozialistischen“ Darstellungen zu DDR-Zeiten, und schon gar nicht in der sog. „bürgerlichen“ Geschichtsschreibung, wurde der antifaschistische Kampf der Freidenker um Sievers gewürdigt (Ausnahmen siehe Fußnote 1). Nach diesen Darstellungen könnte der Eindruck entstehen, es hätte gar keine Freidenker als antifaschistischen Faktor gegeben. Gleichzeitig wird in diesen Geschichtswerken die Rolle der Kirchen in Faschismus verharmlost, bzw. so mancher Täter und Komplize des Faschismus zum „Antifaschisten“ ungedeutet. Aber darüber hat Karlheinz Deschner ja schon genug Material veröffentlicht.34 Die Tatsache, dass es einen christlich motivierten Widerstand gab und einzelne Kirchenvertreter sich antifaschistisch betätigten und Opfer wurden, bestreitet keiner. Im Verhältnis zum Widerstand aus der sozialistischen Arbeiterbewegung waren diese Erscheinungen allerdings marginal.

Dass die Arbeiterbewegung ihren Sievers „vergessen“ hat, kann nur erklärt werden, durch das parteiamtliche Desinteresse von SPD und KPD/SED an der Freidenkerbewegung. Was nicht dem opportunistischen Tagesinteresse dient, wird historisch „vergessen gemacht“. Nach 1945 passte der SPD die freidenkerische Tradition eben nicht mehr ins Konzept. Festgelegt wurde dieser programmatische Kurswechsel der SPD im Grundsatzprogramm, beschlossen von außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13.-15. November 1959. Die altbewährten Forderungen nach einer Trennung von Staat und Kirche, sowie nach einer Weltlichkeit der Schule wurden gestrichen. Der Vorsitzende Erich Ollenhauer erklärte hierzu ausdrücklich, dass sich in dieser Frage die Meinung der Sozialdemokratie geändert hätte und es sich bei diesen neuen Formulierungen nicht nur um taktische handeln würde.35 Heute ist diese Parteiführung bekanntlich Hauptrepräsentant einer unsozialen Politik. Von Freidenkertum sind da nicht mal mehr Rudimente auszumachen.

Im Gebiet der SBZ/DDR wurde den Freidenkern erst gar keine Erlaubnis zur Wiedergründung gegeben. Das Ansinnen auf Wiedergründung von Freidenkern um Ernst Jeske wurde am 12. Juni 1946 von Seiten der SED untersagt. Auch in der SED gäbe es Geistliche verschiedener Konfessionen und ein „Kulturkampf“ wäre beim „Neuaufbau der Heimat“ nicht erwünscht.36 Mit sozialistischer deutscher Gründlichkeit wurde dann auch gleich die Geschichte „gesäubert“. –

Ob den Sozialisten in Ost und West das Fehlen von freiem Denken genützt oder geschadet hat, bleibt der Diskussion überlassen. Ein Anknüpfen an eine Traditionslinie, wie sie im Wirken eines Max Sievers repräsentiert wird, halte ich für lohnend und fruchtbar.

 

 

Anhang:

 

Zeittafel37

1880 Brüssel: Föderation Internationale de Libres Penseurs / Internationaler Freidenkerbund (IFB, b) oder Brüsseler Internationale (BI)

1881 Frankfurt a. M.: Deutscher Freidenkerbund (DFB, b/p)

1905 Berlin: Verein der Freidenker für Feuerbestattung (VFF, p)

1906 Jena: Deutscher Monistenbund (DMB, b)

1908 Eisenach: Zentralverband deutscher Freidenkervereine (ZdF, p)

1909 Magdeburg: Weimarer Kartell (b) [Gründung bereits 1907 in Weimar beschlossen]

1911 Gelsenkirchen: Umbenennung des ZdF in Zentralverband proletarischer Freidenker Deutschlands (ZpFD, p)

1911 Berlin. Komitee Konfessionslos (b/p)

1921 Berlin: Zusammenschluss von BfGD und DFB zum Volksbund für Geistesfreiheit (VfG, b)

1922 Kassel- Umbenennung des ZpFD in Gemeinschaft proletarischer Freidenker (GpF, p- s/k)

1922 Magdeburg: Reichsarbeitsgemeinschaft der freigeistigen Verbände der deutschen Republik (Rag, b/p) und Internationale Freigeistige Arbeitsgerneinschaft (IFA, b/p)

1923 Leipzig: Neue Feuerbestattungskasse proletarischer Freidenker (NFBK, p: s)

1925 Teplitz-Schönau/CSR: Internationale proletarischer Freidenker (IPF, p: s/k)

1926 Leipzig: Bund sozialistischer Freidenker (BsF, p: s)

1927 Berlin: Verband für Freidenkerturn und Feuerbestattung (VfFF, p: s/k)

1929 Berlin: Zentralstelle proletarischer Freidenker (ZpF, p: k)

1930 Berlin: Umbenennung des VJFF in Deutscher Freidenkerverband (DFV, p: s)

1930 Tetschen-Bodenbach/CSR- Spaltung der IPF in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Verband gleichen Namens (IPF, p- s und IpF, p- k)

1931 Berlin: Verschmelzung von IFB und IPF zur Internationalen Freidenkerunion (IFU), b/p: s)

1931 Leipzig: Umbenennung der ZpF in Verband proletarischer Freidenker Deutschlands (VpFD, p: k)

1932 Durch Notverordnung des Reichspräsidenten Auflösung der kommunistischen Freidenkerorganisationen (VpFD)

1933 Auflösung der übrigen proletarischen Freidenkerorganisationen durch die Nationalsozialisten

1936 Prag: Wiedervereinigung von IFU und IpF zur Weltunion der Freidenker (WUF)

Die Städtenamen geben den Gründungsort an und sind nicht identisch mit dem Verbandssitz. - Zu den Abkürzungen in Klammern: b = bürgerlich, p = proletarisch, k = kommunistisch und s = sozialdemokratisch.

 

 

 

1 Biographische Angaben nach: Ausstellung „Aus der Chronik freigeistigen Lebens und Denkens“ des DFV Berlin (Sitz Dortmund) Archiv des DFV Berlin (Pit Heiner) und Gernot Bandur. Freidenker und Sozialist. Max Sievers zum 60. Todestag. Berliner Freidenker-Report 1/2004 (DFV Sitz Dortmund), Ausstellungskatalog “Arbeiterbewegung, Freidenkertum und organisierte Religionskritik“ Herausgegeben von der Arbeitsgruppe Ausstellungsprojekt (Mitarbeiter: Ines Herrnbrodt, Heike Mielke, Petra Krawiec, Sabine Siemer, Katja Stephan, Gerald Betz, Manfred Isemeyer, Christian John, Michael Rist) des DFV Berlin (Sitz Berlin, Vorläuferorganisation des HVD) in  Freidenker-Magazin Nr. 1/1984, Jochen-Christoph Kaiser. Max Sievers in der Emigration 1933-1944, IWK Berlin 1/1980 S. 33-57, Klaus Westendorf. Aus dem Leben von Max Sievers. In: Redebeiträge vom Kolloquium am 17. Januar 2004 zum Gedenken und in Würdigung des Antifaschisten Max Sievers. Freidenker-Report, Zeitschrift der Berliner Freidenker, Sonderausgabe 2004, Hrsg. Von Gernot Bandur und Heinz-Peter Heiner.

Weiterführende Literatur und umfassendes Quellenmaterial zur Geschichte der Freidenkerbewegung: Jochen-Christoph Kaiser. Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik. Stuttgart 1981, Horst Groschopp. Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Berlin 1997, Sebastian Prüfer. Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890. Göttingen 2002, Hartmann Wunderer. Freidenkertum und Arbeiterbewegung. Ein Überblick. IWK Berlin 1/1980, S. 1-33, Horst-Dieter Strüning. Die Geschichte der deutschen sozialistischen Freidenkerbewegung. Eine Skizze - in Joachim Kahl, Erich Werning (Hrsg.) Freidenker. Geschichte und Gegenwart. Köln 1981, S. 9-71.

2 Max Sievers. Durch Demokratie zur Reaktion in Der Arbeiterrat Organ der Arbeiterräte Deutschlands, Jg. 2 (1920) Nr. 25

3 Max Sievers, in: Der Arbeiterrat, Jg. 1, Nr. 1, zitiert nach Arbeitsgruppe S. 42

4 Arbeitsgruppe S. 43

5 Arbeitsgruppe S. 44

6 Protokoll der Vereins-Generalversammlung am 19., 20. und 21. September 1924, Verein der Freidenker für Feuerbestattung, Berlin 1924, S. 3

7 Ebenda, S.33

8 Max Sievers. Warum Feuerbestattung? 1. Auflage Berlin 1923, Nachdruck Text der 2. Auflage 1925, Neustadt 1998, S. 66

9 Ebenda, S. 33f

10 Theo Mayer. Feiern und Feierstunden freidenkender Menschen. Leipzig 1925, S. 95

11 Jochen-Christoph Kaiser. Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. S. 305f

12 Leopold Grünwald in: Heiner Jestrabek (Hrsg.) u.a. Zum deutsch-tschechischen Verhältnis. Dokumentation zum 60. Jahrestag des Münchener Diktates 1938. Mit Beiträgen zur Geschichte von Freidenkertum und Arbeiterbewegung. Heidenheim 2002, S.12-17,  Interview mit Leopold Grünwald am 23. 10. 1991

13 Jochen-Christoph Kaiser. Max Sievers in der Emigration 1933-1944, IWK Berlin 1/1980 S. 33-57.

 

14 Der Freidenker. Brüssel, 1. Februar 1935

15 Lieselotte Maas. Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, Bd. 1, München 1976, S. 228f, 296, 245-248

16 SIKO, Nr. 2 undatiert [1934]

17 SIKO, undatiert [1934?], Artikel: Erlöse uns von dem Übel

18 SIKO, Nr. 9 undatiert [1934?]

19 Klaus Hermsdorf (Hrsg.) u.a. Exil in Frankreich. Frankfurt/M. 1981, S. 92

20 SIKO, Ausgabe: Nur ein Weg führt zum Ziel, 1. 3. 1936

21 SIKO, Ausgabe: Aber was denn sonst? 1. 6. 1936, Artikel: Volksfront

22 Max Sievers an Wilhelm Sollmann, 10. 7. 1936

23 Max Sievers an Wilhelm Sollmann, 16. 7. 1936

24 Karl Retzlaw. Spartacus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1976, S. 356f

25 Max Sievers. Unser Kampf gegen das Dritte Reich. Von der nazistischen Diktatur zur sozialistischen Demokratie. Stockholm 1939

26 Max Sievers. Unser Kampf, S. 43

27 Max Sievers. Unser Kampf, S. 104-108

28 Arbeitsgruppe S.45  

29 Arbeitsgruppe S. 47

30 Arbeitsgruppe S. 49

31 Luise Kraushaar, u.a. Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945. Berlin (DDR) 1970, Bd. 1, S. 641

32 Arbeitsgruppe S. 49

33 Arbeitsgruppe S. 47

34 Karlheinz Deschner. Mit Gott und dem Führer. Die Politik der Päpste zur Zeit des Nationalsozialismus. Köln 1988, ders. Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert. Reinbek 1991

35 Protokoll der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitags der SPD in Bad Godesberg vom 13.-15. November 1959. Vorstand der SPD (Hrsg.) Bonn 1960

36 Antwortschreiben des Landesverbandes Berlin der SED an Ernst Jeske dokumentiert in: Kein Jenseits ist, kein Aufersteh’n. Freireligiöse in der Berliner Kulturgeschichte. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Prenzlauer Berg Museum. Berlin

1998, S. 213

37 : Jochen-Christoph Kaiser. Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik. Stuttgart 1981

Wer war Max Sievers (1887-1944)? – Freidenker, Sozialist, Antifaschist                             Seite 16